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Ausgesprochen

Ausgesprochen

Die enorme Schieflage unserer Welt kann große Verzweiflung hervorrufen, und wir sollten uns die Frage stellen, wie wir dieser Verzweiflung angemessen begegnen.

Als ich kürzlich den Artikel „Kampf oder Untergang“ von Bertram Burian las, wurde mir buchstäblich schlecht. In meiner Jugend in den 1980er-Jahren war der Kalte Krieg auf dem Höhepunkt und die Angst vor einem atomaren Overkill immer präsent. Jetzt bin ich selbst zweifacher Vater und muss tatsächlich wieder Angst davor haben?

Ich will schreien. Aus Wut, aus Frust, aus Hilflosigkeit. Ich kann es nicht glauben. Repräsentieren wir wirklich Fortschritt? Jahrhundertelang wurde der Mensch in Europa vom Adel ausgebeutet und von der Kirche unterdrückt und in Angst gehalten. Nun wähnen wir uns aufgeklärt und befreit, müssen aber darum bangen, dass einige wenige die völlig absurde Entscheidung treffen, durch Atomwaffen sämtliches Leben für Generationen zu zerstören?

Wir haben seit Jahrtausenden erfahren, was Krieg bedeutet, und seit siebzig Jahren wissen wir auch, was der Einsatz von Atomwaffen bedeutet. Sind diese Erfahrungen nicht genug, die einzig richtigen Schlüsse zu ziehen? Nein, offenbar nicht. Wir ziehen auch nicht die einzig richtigen Schlüsse aus den Folgen der Vernutzung fossiler Energien, des Abbaus seltener Rohstoffe und der Herstellung von Kunststoffen und anderem Giftmüll. Wir ziehen nicht die richtigen Schlüsse aus den Folgen des aktuellen Wirtschaftssystems oder verfehlten Bildungszielen et cetera.

Wie unsichtbar muss der Wahnsinn denn sein, wenn das als „Normalität“ geschehen kann? All das kann nur möglich sein, wenn eine vollkommene Abkoppelung von „Mutter“ Natur stattgefunden hat: Wir sehen uns nicht als aus der Natur hervorgegangen, sondern ihr gegenüberstehend. Wir wollen sie bezwingen und überwinden. Dieser Planet dient nur noch der Verwirklichung unserer künstlichen Lebenspraxis. Aber die findet nur in der Enge der Gegenwart und ihrer Bedürfnisse statt, weil wir uns herausgelöst haben aus den größeren Zusammenhängen, welche uns physisch wie geistig tragen; wir haben natürlichen Ordnungen den Rücken gekehrt und meinen, sie durch künstliche ersetzen zu können. Das nennen wir dann Fortschritt, progressiv oder „woke“. Und so könnte es sein, dass wir das Leben abschaffen, bevor wir es richtig verstanden haben.

Sind wir Menschen unfähig, Erfahrungen zu integrieren, oder überwiegt der destruktive Anteil in uns? Es gibt noch eine dritte Möglichkeit: Die destruktiven Energien sind zwar in der Minderheit, aber an der Macht. Und dann?

Wie wir in der Vergangenheit gesehen haben, führen demokratische Wahlen offenbar zu keinen nennenswerten Veränderungen, solange die Optionen mehr oder weniger austauschbar sind. Auch der manifestierte Volkswille, auf Demos zum Ausdruck gebracht, führt zu keiner Verbesserung. Legal kanalisierter und gelenkt verpuffender Frust. Aufklärung fruchtet nur mäßig, weil jeder Einzelne naturgemäß an dem festhält, was er persönlich als Wahrheit auserkoren hat. Warum also mit ungeeigneten Mitteln weitermachen, wenn doch der Abgrund immer näher rückt, egal was das Volk will oder was das Gebot echter Menschlichkeit erfordert?

Was gibt es noch zu sagen, was zu schreiben? Welche tiefgründigen und fundierten Analysen werden uns wieder zur Liebe und zum Glück bringen? Welche Formel muss ausgesprochen werden, damit sich alle Angst und Bedrohung auflösen können?

Vielleicht ist das Wort ungeeignet, uns wieder dahin zu bringen, wo wir sein wollen: zum Glück und zur Liebe. Das sind allerdings Gefühle, und Gefühle kann man nicht herbeireden. Kein Konzept von Befreiung, von Frieden oder von Beziehung wird uns erlösen. Wir können uns nicht glücklich denken. Erzeugen wir deshalb auf dieser Welt so viel Angst? Als Kontrastmittel, um sichtbar zu machen, was wir wirklich wollen?

Ich hatte an anderer Stelle einmal geschrieben, dass der Mensch unbewusst seine Zerstörung anstrebt, weil er in seiner Tiefe um seine Unsterblichkeit weiß, die er bewusst verleugnet und sich in seiner wahren Natur deshalb verraten hat:

„Jeder Konflikt, jeder Krieg, sogar jeder zerstörerische Akt an der Natur bringen uns zum Fühlen, erlaubt eine Erlebnistiefe, die im Schlepptau all ihrer Grausamkeit und ihres Schmerzes unsere Liebesfähigkeit sichtbar macht. Der ‚Thrill‘, das ultimativ Unfassbare, soll unsere Existenz überschreiten: Erst wenn wir zerstört haben, was wir lieben, erkennen wir, wer wir wirklich sind, was uns wirklich etwas bedeutet und dass unsere wahre Natur unzerstörbar ist.“

Jetzt will ich das nicht wahrhaben. Ist es wirklich möglich? Weiter heißt es im Text:

„Vielleicht erfährt der Mensch die Vollständigkeit des Lebens erst im Sterben, weswegen unser Kollektivbewusstsein den Kollektivtod anstrebt. Der Philosoph Karl Jaspers sagte bereits 1932: ‚Nach aller Erfahrung von Menschen in der Geschichte wird auch das Furchtbarste, das möglich ist, irgendwann und irgendwie, von irgendjemandem vollbracht‘“ (1).

Was bringt diese Erkenntnis vor der Katastrophe? — Es ist alles gesagt worden.

Aber ganz stellt mich das nicht zufrieden. Wozu soll das gut sein? Erfahrungen ins Dasein zu bringen, die man nicht haben will? Oder Erfahrungen zu wiederholen, weil es keine Alternative gibt? Soll ich hinnehmen und akzeptieren, dass der Mensch kollektiv eben eher Zerstörung erschafft als Glück, Freude und Schönheit für alle?

Heranwachsende Menschen in der Phase der Adoleszenz, also ihrer Jugend, verhalten sich oft destruktiv. Ohne ersichtlichen Einsatz von Verstand gehen sie waghalsige Risiken ein, deren Konsequenzen von ihnen unberücksichtigt oder ungesehen bleiben, sie verhalten sich laut und raumfordernd. Sie suchen ihre Identität, indem sie sich von ihrer Herkunft lösen. Glücklicherweise überlebten wir alle diese Phase unserer Entwicklung.

Befindet sich die Menschheit in ihrer Adoleszenz? In dieser Epoche scheinen wir das meiste vergessen zu haben, was uns hier hergebracht hat. Traditionen unserer Altvorderen werden belächelt oder als überholt betrachtet. Altes Wissen, die Anbindung an das Geistige, schamanische Praxis — all das wird in das Reich des Aberglaubens oder der Privat-Mythologie verwiesen. Bewusstseinserweiternde Substanzen werden kriminalisiert und verboten.

Die Technologie hat ihren Platz eingenommen; wir wollen befreit werden vom Sterblichen und erzeugen damit einen gewaltigen „Schatten“ (C. G. Jung), der uns verfolgt und bedrohliche Ausmaße angenommen hat. Wir räumen dem Teil des Lebens, der uns erschreckt, keinen Raum mehr ein. Das Sterben, der Tod, das Ungeheure, das Dunkle, das Monströse: Wir wollen lieber Fit&Fun, Lifestyle und Fortschritt.

In dieser Flucht erschaffen wir gemäß dem Gesetz des Kräfteausgleichs genau das, wovor wir uns fürchten.

Wir haben vergessen, dass wir aus dieser Welt hervorgegangen sind; wir sind ihr Produkt, wir sind Kinder dieser Welt. Diese Welt ist aber dual, ohne das eine gäbe es das andere nicht. Wir erfassen einen Vordergrund erst in Verbindung mit einem Hintergrund, Bewegung erst in Relation zum Ruhenden, Freude erst mit der Möglichkeit von Leid. Dem Leben wohnt auch etwas Bedrohliches inne, die „Unterwelt“ mit all ihren Fratzen und ihren Dämonen lebt eben auch in jedem Einzelnen. Der Tod ist dem Leben immer nahe, sie sind die zwei Seiten derselben Medaille. „Zwischen Kot und Urin werden wir geboren“ (Augustinus).

Jahrtausendelang gab es tradierte Rituale, in denen das „Böse“, also das Gefürchtete, einen Ausdruck fand. Unsere Lebensgemeinschaften waren lokal begrenzt, was verhinderte, dass das Böse allzu fremd und abstrakt wurde. Man konnte ihm ein Gesicht geben. Erst mit beginnender Globalisierung, namentlich mit der Vereinheitlichung der Religion, wurde das Böse „standardisiert“ und personalisiert. Die Angst konnte wachsen: Was, wenn die Nachbarin doch eine Hexe war? Wenn mein Innerstes nicht meine Natur, sondern der Teufel war? Was würde mich nach dem Tod erwarten, wenn nicht das ewige Reich Walhalla, sondern das Fegefeuer oder gar die Hölle?

Ohne technische Hilfsmittel ist der Radius des Menschen ziemlich begrenzt. Vielleicht war diese Begrenzung in der Vergangenheit auch eine gesunde psychische Begrenzung? Denn offenbar sind wir mental nicht so schnell gewachsen wie unsere technologischen Möglichkeiten. Wir sind demzufolge überfordert mit den Dimensionen, die wir selbst geschaffen haben. Wir können den „Feind“ weit auslagern, ihm sein Gesicht nehmen, müssen aber einsehen, dass unsere Waffentechnologie jeden Konflikt ganz nah kommen lässt.

Der Feind ist ein Abstraktum, auf welchen unsere Menschlichkeit, unsere Liebe und unser Mitgefühl keine Anwendung zu finden braucht. Distanz entmenschlicht. Wer führt denn Krieg gegen wen? Wer schlachtet diesen Planeten aus? Die Minen für seltene Erden in China, Brasilien, Mexiko und Australien sind weit weg, genauso das Fracking in Kanada und anderswo; den Verbleib unseres Plastikmülls haben wir vertrauensvoll delegiert; unseren Strom stellen Kernkraftwerke in Nachbarländern her.

Und so lesen und (fern-)sehen wir von den unhaltbaren Zuständen auf dieser Welt, weit weg, wir sind betroffen, vielleicht innerlich, meist aber nur finanziell, weil irgendein Kampf, für das Klima oder für den Frieden, eben Opfer verlangt. Ist das nicht grotesk? Hat uns dieser Teufelskreis inzwischen davon überzeugt, dass es „eben so ist“, dass alternative Vorstellungen etwas für realitätsferne Träumer sind?

Wir sind entwurzelt, vereinzelt und abgetrennt von unserer Angebundenheit an diejenige Intelligenz, die uns ins Dasein gebracht hat. Nur in diesem Zustand ist möglich, was geschieht. Alles, was uns über Jahrtausende Stabilität gegeben hat, wurde abgeschafft, infrage gestellt oder durch künstliche und technische Konzepte ersetzt. Wir sind keine Kinder Gottes mehr, sondern rein biologische, zufällige Funktionswesen — ohne Hoffnung darüber hinaus.

Damit haben wir uns aus den Bedingungen unserer Existenz herausgehoben. In diesem Zustand sind wir nicht zukunftsfähig, weil wir schlicht nicht gegenwartsfähig sind. Wenn wir sterblich sind, brauchen wir auch keine Zukunft mehr. Wir dürfen sie zerstören. In einem größeren Zeitrahmen betrachtet, haben wir es geschafft, in einem geschichtlichen Augenblick unsere Lebensgrundlage an den Rand ihres Fortbestandes zu bringen. Es ist höchste Zeit, unsere Adoleszenz zu beenden und die riskanten Erfahrungen zu integrieren — Jugend ist eine Zeit legalen Wahnsinns.

Unsere Welt ist derart vom Wahnsinn durchzogen, dass es kaum mehr sichtbar ist. Die Medien existieren nur mit und dank der Inhalte dieses Wahnsinns. Auch Manova würde kaum einen einzigen Artikel aufweisen, wäre es anders. Die Gefahr liegt darin, sich daran zu gewöhnen. Auf perverse Weise wird schleichend aus Information Unterhaltung. Wenn das Empörende zum Alltag gehört, muss man entweder verzweifeln oder wegschauen. Erst wenn ich meine Verzweiflung zulassen kann, kann ich wirklich sinnvoll handlungsfähig werden. Sinnvoll ist das, was für mich widerspruchsfrei ist.

Auf dem Weg zum Erwachsenwerden kann Weisheit erst werden, wenn theoretisches Wissen durch Erfahrung erlebt wurde. Jedes Problem ist also der Praxisteil des Wachstums- und Reifeprozesses. Reife ist daran erkennbar, dass Verantwortung übernommen werden kann. Allerdings kann man erst Verantwortung übernehmen, wenn man sich selbst nicht zum Opfer und andere nicht zu Tätern macht. Auch das ist bekannt. Und trotzdem: Was sonst als Opfer sind die meisten Menschen? Opfer von Armut, Opfer von Desinformation, Opfer ihrer Ängste, Opfer ihrer Gewohnheiten. Ich bin auch Opfer, nämlich Opfer meiner Hilflosigkeit und meiner Trauer über den Zustand dieser Welt.

Und wo bleibt nun die Liebe? Sie fragt: „Kannst du auch das lieben?“ Auch das, was nicht in Ordnung ist, aber Teil derselben großen Erfahrung, die wir erleben?

Jede Flucht in Form von Ablenkung, Unterhaltung, Information oder Aktivismus führt letzten Endes weg von der inneren Wahrheit, die angeschaut werden will, dort, im Gefühl der Hilflosigkeit, Angst, Wut oder Verzweiflung. Wenn wir alles ausgesprochen haben, versiegen die Worte. Damit enden die Konzepte, die Verengungen der Welt und der Versuch, diese Welt irgendwie doch unter die Kontrolle seines Verstandes zu zwingen. Das ist sehr befreiend. Ich komme dann zurück zu mir. Still ist es dort. Ich höre dann nur noch zu.


Quellen und Anmerkungen:

(1) In: „Das Problem — Warum Leid?“, abrufbar unter ausstiegsberatung.com


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